Die auch in der Medienberichterstattung über gegenwärtige Fluchtbewegungen seit langem schon kontinuierlich aggressiver werdenden Grenzsicherungsbestrebungen und rassisierenden und kulturalistischen Zuschreibungen scheinen nun in den Reaktionen auf nach wie vor bruchstückhafte Informationen über die Gewalttaten gegen Frauen* in der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof und zeitgleich in Hamburg, Stuttgart, Berlin einen vorläufigen Höhepunkt zu erreichen. Die Forderung in der Konsequenz mit aller Härte des Rechtsstaates zu antworten und die Aussage es dürfe keine No Go Areas in Deutschland für Frauen geben, sollte immer und für alle Opfer sexualisierter Gewalt gelten. Empfehlungen der Verhaltensänderung, die sich auf das Meiden von Massenveranstaltungen und das Halten von Abstand zu potentiellen Tätern* beziehen, sind unangemessen, weisen sie doch die Verantwortung für das Geschehene den Betroffenen zu.
Gewalt und speziell sexualisierte Gewalt gegen Frauen* ist kein neues Phänomen in Deutschland oder anderswo, das sich nun in Zusammenhang mit selbst vor Gewalt geflüchteten Männern* hier Bahn bricht. Wir sind daran gewöhnt, das Thema individualisiert zu verhandeln, sodass die strukturellen Zusammenhänge ausgeblendet bleiben können. Das was sich zum Jahreswechsel an verschiedenen Orten in Deutschland ereignet hat, muss neben dem klaren Bekenntnis zur Gleichberechtigung aller Geschlechter, dem Recht auf körperliche Unversehrtheit und dem deutlichen Verurteilen von Gewalt auch dazu führen, dass die Vielschichtigkeit der Problematik Beachtung findet. Angesichts dieser Entwicklungen wird es nicht reichen, bloß Mahnungen auszusprechen, „Flüchtlinge“ oder „Migranten*“ nicht pauschal vorzuverurteilen – vor allem, wenn gleichzeitig, wie auch in Bezug auf Köln, das Thema „Flüchtlinge“ und das Thema Gewalt quer durch alle Medien permanent als vorgeblich zusammenhängend genannt und nicht etwa längst notwendige Korrekturen im geltenden Sexualstrafrecht, sondern eine Verschärfung der Asylgesetze gefordert wird. Denn solange keine kritische Reflexion und Debatte über die diskriminatorischen Strukturen der ‚eigenenʻ Gesellschaft und ‚Kulturʻ eingefordert und begonnen wird, erlaubt die Perpetuierung rassistischer und anti-muslimischer Stereotype auch das perpetuierte Ausblenden heterosexistischer und auf vielfältige andere Weisen diskriminatorischer Strukuren der Mehrheits-gesellschaft.
Was demgegenüber dringend ansteht, ist eine öffentliche und in allen gesellschaftlichen Bereichen geführte kritische Debatte sexistischer und heteronormativer Strukturen der europäischen Mehrheits-gesellschaften, über rape culture, über fragwürdige identitäre Grenzsicherungen zwischen einem vorgeblichen ‚Innenʻ und ‚Außenʻ einer Gesellschaft, zwischen einem ‚Eigenenʻ und ‚Anderenʻ, über vorgeblich eindeutig abgrenzbare konkurrierende Zugehörigkeiten, über den funktional-strukturellen Zusammenhang der Konstruktionen von Gender, Nation und Gemeinschaft, sowie über die Grundlagen, die Funktion und die Konsequenzen einer Definition von Gesellschaft und deren Grenzen und ein entsprechendes Verständnis von Demokratie – um alternative Denk- und Handlungsoptionen zu entwickeln – auf lokaler wie auf globaler Ebene, jetzt.
Für den Vorstand Gender_Diversity – Fachverbandes:
Eva Gottwalles, Sybille Wiedmann, Manfred Köhnen, Susanne Lummerding
Berlin, 8. Jan 2016
Gerne verweisen wir auf weitere Stellungnahmen:
- https://www.frauen-gegen-gewalt.de/nachricht/stellungnahme-zu-den-uebergriffen-in-der-silvesternacht-309.html
- http://www.frauenbeauftragte.org/gewalt-gegen-frauen/offener-brief-zur-massenhaften-gewalt-frauen-der-%20silvesternacht-ko%CC%88ln-und-hamburg
- Margarete Stokowski über sexualisierte Gewalt (Spiegel)
- Kommentar Übergriffe in Köln (wienerin.at)
- http://www.ausnahmslos.org